Fortschritt und Zivilisation

In der aktuellen Ausgabe des Magazins FROH! findet sich ein bemerkenswertes Interview mit dem Science-Fiction Autor Boris Strugatzki. Bemerkenswert deshalb, weil ich den Vergleich der fantastischen Literatur mit der uns zwischenzeitlich umgebenden Realität reizvoll finde.

Kein Science-Fiction Autor – auch kein Jules Verne – kann die Zukunft vorhersagen. Je ausgefeilter und plausibler jedoch die technischen Utopien der Bücher, je größer stets meine Faszination für dieses Genre. Dennoch ändern die technischen Errungenschaften weder in den Romanen noch in der Realität die Grundprobleme des menschlichen Miteinanders. Dazu Strugatzki:

Fortschritt ist einfach die Anhäufung von Wissen und Fähigkeiten. Er hat vor langer Zeit begonnen und wird sobald nicht aufhören. Solange der Mensch vom »Dünnbrett-Prinzip« (um den Preis bei möglichst geringer Anstrengung möglichst viel zu bekommen – Anm. d. Vf.: klingt für mich nach dem Minimalprinzip) geleitet wird, kann der Fortschritt überhaupt nicht angehalten werden.

Bei der Zivilisation liegt der Fall komplizierter, weil dieser Begriff außer dem wissenschaftlich-technischen auch noch den ethischen umfasst. Und wenn der moderne Mensch sich mit seinen iPhones, Marsrovern und Atomraketen in der Lebensweise gravierend von seinen Vorfahren aus dem Jahre 1012 unterscheidet, fällt der Unterschied in Bezug auf seine Gier, seine Lüsternheit, seine Neigung zu lügen und die Obrigkeit (den Führer) anzuhimmeln, weitaus geringer aus – vielleicht gibt es da überhaupt keinen Unterschied.

Technisch überholt gerade jede Generation die vorherige mit Hochgeschwindigkeit, hängt sie bisweilen sogar ab. Wahrscheinlich auch mit Blick auf sein eigenes Leben, Strugatzki war Jahrgang 1933, sagte er:

Ein Mensch wird im Dampf- und Elektritätszeitalter geboren, verbringt sein Leben im Atomzeitalter und findet sich auf seine alten Tage in der Welt der allumfassenden Digitalisierung wieder, inmitten von iPods und iPhones (…).

Welchen zivilisatorischen Fortschritt haben uns die letzten 10, meinetwegen 15 Jahre technischer Fortschritt gebracht? Überspitzt formuliert, anhand der Thesen von Strugatzki: Das Internet, wie wir es heute sehen, wird von wenigen mächtigen (gierigen) Akteuren bestimmt, die nicht unerheblich daran verdienen und ihre Macht wie Königreiche ausbauen. Ubiquitäre soziale Netzwerke jedweder Geschmacksrichtung laden zur Selbstdarstellung ein um bei kleinen Verfehlungen mit Shitstorms einen zeitgemäßen Scheiterhaufen zu entfachen. Affiliate- und Partnernetzwerke, Vermarktung und Usertracking dienen sich der Obrigkeit an, richten ihren Blüte dorthin aus, wo die Sonne des Geldes scheint.

Mein Freund Oli konterte diese Argumentation vor einigen Tagen mit der Relevanz der sozialen Netze beim Arabischen Frühling im vorletzten Jahr. Haben wir hier nicht gemeinsam erlebt, dass durch die schnelle und unkomplizierte Vernetzung von Menschen via Facebook sogar Diktaturen fallen können?

Nun, ich möchte hier weder als Technik- noch als Gesellschaftspessimist auftreten. Aber die aktuelle Entwicklungen der letzten Wochen in Ägypten deutet meiner Meinung nach eher auf eine Filterblase hin.

Der Begriff Filterblase wurde von Eli Pariser im gleichnamigen Buch geprägt und meint, dass Logarithmen von Online-Plattformen die Dinge anzeigen, die den Anwender aufgrund seiner bisherigen Interaktionsmuster interessieren können, mehr hier.

Tools, wie z. B. Facebook verdichten die potentiell für den Anwender interessanten Beiträge. Als Anwender erhalte ich den Eindruck, dass ganz Facebook sich nur mit den Themen befasst, die mich interessieren. Vielleicht mit der Organisation von Protesten gegen die Regierung. Anders als bei der körperlich erfahrbaren Masse von Gleichgesinnten, beispielsweise bei den Leipziger Montagsdemonstrationen 1989, kann bei einer reinen Formation über soziale Netzwerke die Anzahl der tatsächlichen Aktiven im Dunkeln bleiben.

Dieser Schwung, der im Arabischen Frühling – mit Rückenwind unserer modernen Kommunikationsmöglichkeiten – entstanden ist, reicht nicht zur spontan-kollektiven Neukonstitution eines Staates. Die subjektive Wahrnehmung von gesellschaftlicher oder politischer Meinungsdichte ist objektiv nicht so deutlich vorhanden und reicht vielleicht nicht, um zügig eine aufgeklärte, demokratische und zeitgemäße Gesellschaft zu errichten. Zudem ist die Komplexität, mit der sich die Verantwortlichen dort derzeit konfrontiert sehen ungleich größer, als sie derzeit auf einer Online-Plattform dargestellt werden könnte.

Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich weder als ein Politik– noch als Nahost-Experte herhalten kann. Deshalb kehre ich zu den Gedanken von Strugatzki zurück: unsere Ethik, unser Miteinander, entwickelt sich unterproportional zu unserem technischen Fortschritt. Fakt ist: für Meinungsäußerungen – insbesondere kritische – und Protest funktionieren unsere neuen technischem Möglichkeiten schneller und vielleicht sogar lauter. Um etwas zu verändern, etwas zu schaffen, konstruktiv an etwas mitzuarbeiten, reicht das aber nicht aus. Sonst entspräche unser Verhalten, um in Strugatzkis Bild zu bleiben, in etwa der Ethik im Jahre 1012.

Jeder, besonders jeder, der online aktiv ist, kann mit seinem Verhalten dazu beitragen, dass auch hier Fortschritt beginnt. Zum einen in der Art, wie man in der direkten Kommunikation mit anderen Netzteilnehmer, andern Menschen umgeht. Zum anderen aber auch mit der Idee, etwas Konstruktives ins Netz zu tragen. Etwas, das anderen weiter hilft. Andere auf neue Ideen bringt oder sie ermutigt, ihre Ideen umzusetzen. Etwas, das über Fingerzeigen, Schadenfreude, Trollen, Herumpöbeln und Shitstormen hinausgeht. Etwas, das sich mehr nach einer freundlichen Gegenwart und Zukunft anfühlt. Vielleicht schaffen wir es damit einen kleines Stück, uns nicht nur SmartTVs, SmartHomes und SmartPhones zu erdenken, sondern auch »SmartHumans« zu werden.